Texte

 

 

 

 

 

Gedanken

 

zu Joseph Haydns Oratorium Die Jahreszeiten

 

 

 

Joseph Haydn hatte ein gespaltenes Verhältnis zu seinem letzten Oratorium Die Jahreszeiten. Anlässlich seines Besuches bei dem über Siebzigjährigen berichtete der Maler Albert Christoph Dies, die Arbeit an dem Riesenwerk hätte des Komponisten Kraft aufgebraucht. „Ich hätte die Jahreszeiten nie schreiben sollen! Ich habe mich dabei übernommen“, waren Haydns Gedanken zu seinem Werk.

 

 

In der Tat zieht Haydn mit den Jahreszeiten eine beeindruckende Bilanz seiner jahrzehntelangen Arbeit als Komponist. Allein die Aufführungsdauer von zweieinhalb Stunden ist gewaltig. Nicht weniger eindrücklich sind aber die vorbildliche kontrapunktische Ausführung und der überwältigende Einfallsreichtum, mit denen der damals weltberühmte Meister seinem Bild des Jahreslaufs tönende Gestalt verleiht. Indem Haydn die Summe seines musikalischen Lebens zieht, darf er uns durch mehr als vierzig Jahre Musikgeschichte führen. Manche der rhetorischen Figuren, mit denen er die kreatürlichen Phänomene tonmalerisch schildert, begegnen uns bereits in seinen allerersten Kompositionen. So ist z. Bsp. die Musik der Morgendämmerung aus der in Haydns erstem Jahr als Vizekapellmeister auf Schloß Esterházy entstandenen Sinfonie Le matin (1761) entnommen. Berühmt geworden und sofort zu erkennen ist das ironische Zitat aus seiner sogenannten Sinfonie mit dem Paukenschlag (1791), mit dem er Simon flötend über den Acker schlendern lässt. Sein Textdichter Gottfried van Swieten hatte für diese Stelle eine Melodie aus einer populären Oper eines Konkurrenten gefordert, worauf der beleidigte Haydn erwiderte: „Mein Andante ist so gut und so bekannt als irgend ein Lied aus jenen Opern.“ Wenn er zur Klage des Chores „Weh uns!“ den Schrecken des Sturms in eine an die modale Harmonik Giovanni Gabrielis erinnernde Doppelfuge kleidet, greift Haydn sogar bis auf die Musik der Renaissance zurück. Das Werk als solches stellt sich dagegen deutlich in die damalige Gegenwart - die Zeit der Frühromantik um 1800. Und erweist einem damals gerade verstorbenem Kollegen Respekt: Mozarts Genie hat Haydn ausdrücklich beeindruckt – er schrieb einst, er „liebe diesen Mann“ - und die Verehrung für den musikalischen Mitstreiter ist an vielen Stellen der Jahreszeiten zu hören. Neben eindeutigen Zitaten (so zitiert der Sopran in der Ouvertüre die Arien sowohl der Pamina wie des Tamino; das Thema der Chorfuge „Uns sprießet Überfluss“ ist Mozarts Requiem entnommen; das Duett „Ihr Schönen aus der Stadt“ führt uns zu Papagena und Papageno) verleiht Haydn vielen Nummern ganz allgemein den Tonfall der Zauberflöte. Vor allem das freimaurerisch geprägte Finale mit der Herausstellung der Ideale von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit beschwört die feierliche Welt Sarastros herauf. Vor allem beeindruckt zu haben scheint Haydn die Fähigkeit Mozarts, avancierte Kompositionstechniken mit einer breit verständlichen Volkstümlichkeit zu verschmelzen. In der Verschränkung der verschiedenen musikalisch oft divergierenden Mittel zu einem Ganzen folgt Haydn dem vor der Jahrhundertwende aufgekommenen Streben nach Klassizismus und verweist darüber hinaus auf die neueste Philosophie seiner Zeit, die im Kosmos die Einheit in der Vielheit wirken sieht. Sein Streben, das musikalisch Verschiedene in einer einheitlichen Sprache zu fassen, ist vorbildhaft und wohl erst wieder durch Beethoven verwirklicht.

 

 

Die Einheit des Ganzen erschafft Haydn durch einen genialen Griff: er legt dem ganzen Werk die von ihm selbst entwickelte Form einer viersätzigen Sinfonie zu Grunde. So charakterisiert er jede Jahreszeit durch ein Grundtempo von schnell bis langsam und vermag ihr einen sinnvollen Platz innerhalb seiner musikalischen Architektur zuweisen. Nach einer äußerst knappen langsamen Einleitung, erscheint der Frühling mit einem schroffen Vivace als Kämpfer gegen den Winter; der Sommer erklingt dagegen Adagio - leise und zart und eher einer musikalischen Phantasie entsprechend, als einem geschlossenen Musikstück. Als starker Kontrast gezeichnet ist die „Trunkenheit“ des Herbstes („Ich nenne die Schlussfuge die besoffene Fuge“), wenn die einzelnen Nummern wie Teile eines sinfonischen Scherzos wirken. Der Winter ist der Rondeau-Form entsprechend eine Sammlung verschiedener musikalischer Gedanken, in allgemein verhaltenem Tonfall. Komponist und Textdichter beschränken sich nicht nur auf die Darstellung des Jahreslaufs als solchem, sondern sehen in ihm zugleich das voranschreitende Lebenspanorama eines einzelnen Menschen. Haydn, der in seinem Leben eine unermessliche Fülle an Meisterwerken geschaffen hat, interpretiert die letzte Arie („Erblicke hier, betörter Mensch“) als Aufbegehren gegen das Nachlassen der eigenen Lebenskraft. Man kann jedem Takt seiner Jahreszeiten anmerken, daß Haydn um die beste, prägnanteste und ungewöhnlichste Lösung gerungen hat. Selbstverständlich erfreuen wir uns der zahlreichen tonmalerischen Schilderungen, die vor unseren inneren Augen die Frösche, Kühe, Grillen, Lämmer, Fische, Rosen und Lilien zum Leben erwecken. Wie selbstverständlich scheinen sie in das Gesamtwerk eingebettet und verleihen dem Oratorium einen populären, griffigen Tonfall. Wie Haydn zugleich ein rhythmisch nahezu avantgardistisches Werk geschaffen hat, fällt dagegen weniger auf. Wenn der Chor freudetrunken singt „Die Freuden! O, wer spricht sie aus! Wer zählet sie!“ lässt Haydn das Orchester mit Schlägen hereinfahren, die in ihrer Unregelmäßigkeit chaotisch wirken. Der morgendliche Ruf des Hahns wirkt deshalb so störend, weil die Musik plötzlich aleatorischen Gesetzen zu folgen scheint. Das System der ungeraden Perioden, die Haydn z. Bsp. in der Ouvertüre in übergroßer Häufigkeit verwendet, hat erst wieder Stravinsky aufgegriffen (der Haydn außerordentlich geschätzt hat). Um die Verirrung des Wanderers im Winter zu schildern, wagt sich Haydn auch harmonisch in unerhörte Sphären vor, deren Aufbau an die entfunktionalisierte Harmonik der Spätromantik bis Richard Strauss erinnern. Eine Eigenheit wirft ein Licht auf die Persönlichkeit des Komponisten: die wahrscheinlich häufigste dynamische Angabe Haydns in diesem Oratorium ist das Sforzato fz, welches dem Werk einen geradezu revolutionären Charakter verleiht. Die Angabe erscheint wie das Symbol schlechthin für Haydns lebenslanges Streben gegen das Mittelmaß.

 

 

Mit den Jahreszeiten hat Joseph Haydn ein enzyklopädisches Werk geschaffen. Der betagte Komponist, der jahrzehntelang an den Hof von Esterházy gebunden war und erst sehr spät reisen durfte, konnte mit Recht von sich behaupten „Meine Sprache versteht die ganze Welt“.

 

 

 

 

 

 

Zu unserem Ballettabend "Meine Seele hört im Sehen"

 

Choreographie: Jörg Weinöhl

 

 

Seit der junge Felix Mendelssohn-Bartholdy die Musikwelt 1829 durch die Wiederaufführung der Bach’schen Matthäus-Passion beeindruckte, gehört die Beschäftigung mit älterer Musik zu den unversieglichen Inspirationsquellen von Komponisten und Interpreten. Längst hat sich die mit ihr verbundene Alte-Musik-Bewegung verwandelt, ist nicht mehr eine nur in Nischen zu findende Liebhaberei, sondern hat die Konzertpodien der Welt erobert. Parallel zur elektronischen Revolution hat eine Hinwendung stattgefunden zu vergrabenen Schätzen vergangener Jahrhunderte. Unser Konzertrepertoire sieht an der Seite von Beethoven, Mozart oder Wagner lange vergessene Namen wie Sartorio, Wassenaer, Erlebach oder sogar Monteverdi, die wie unzählige andere auf den schier uferlosen Reichtum der Musik zur Renaissance und Barockzeit hinweisen. In den Folianten der Bibliotheken wurden vergessene Werke ausgegraben; verstaubte Instrumente wurden hervorgeholt und mit ihnen verlorene Spieltechniken wiederbelebt. Plötzlich galt es, Abstand zu nehmen von der noblen Gemütlichkeit des bürgerlichen Konzertsaales. Es galt, den rauen, naturhaften Klang der Originalinstrumente ernst zu nehmen. Einer der Giganten der historisch informierten Aufführungspraxis, Nikolaus Harnoncourt, sagte im Rückblick beschwichtigend, er habe einfach genau nachlesen wollen, was in den zeitgenössischen Quellen zu finden war. Das hieß bei ihm: sehr genau hinschauen. Nicht hinnehmen, daß es – nach Revolutionen und Weltkriegen – eine ununterbrochene Überlieferung geben könne, die die Jahrhunderte bruchlos überdauert hätte. Joseph Engramelle polterte schon 1775: „Lully, Couperin, Corelli und selbst Rameau wären empört, hörten sie ihre Stücke so wie man sie heute aufführt!“ Die vorgenannten Komponisten und andere aus zeitgenössischen Zeugnissen heraus verstehen zu wollen, brachte vor allem die Erkenntnis, daß jede Note semantische Bedeutung in sich trägt. „Musik als Klangrede“ nannte es Harnoncourt – den Interpreten damals und heute bedeutete es, die Sprache der Symbole und Affekte lesen und sprechen zu können, um den Zuhörern den verborgenen Sinn der Werke aufzuschließen. Wie die Bildhauer des Barock ihre figuralen Kompositionen mit unsichtbaren Fäden verbanden, deren Zusammenhang sich allein dem Kennerblick offenbarte, so finden wir in der Barockmusik ein unsichtbares Netz von Bedeutungen und Bezügen, dessen Details dem Interpreten genauestens vertraut sein mussten. Jeder Ton konnte auf mannigfaltig verschiedene Arten gespielt werden. Die Simplifizierung „kein Vibrato“ verdeckt, daß es neben dem Fingervibrato unzählige Spielarten gab, einen Ton zum Klingen zu bringen, so daß er seinen Platz in der Architektur des Werkgebäudes finden konnte. Davon zeugen die Partituren Lullys oder Rameaus, die, um den Glanz des französischen Hofes widerzuspiegeln, ihre Musik vollständig aus der Ornamentik heraus dachten. Davon zeugen die hunderte Traktate mit ihren Tabellen, die die Verschiedenheiten von Trillern aufzählen; erklären, wie Töne an- und abschwellen, wie Schwerpunkte gesetzt oder Klangfarben eingesetzt werden, um einen bestimmten Affekt zu zeigen. Dass die Komponisten der damaligen Zeit ihren Interpreten allerdings viel mehr Spielraum in der Darstellung gaben, ist kein Widerspruch. Im damaligen Denken entsprach der Notentext dem monodimensionalen Bauplan, der, den floral anmutenden Reichtum der klingenden Musik skizzierend, dann vom Interpreten mit größtem Geschmack ausgeführt werden sollte. „Der Weg von der Notenschrift zum guten musikalischen Vortrag ist unendlich“, schrieb François Couperin 1717. Zusammenstellung, Instrumentation, Charaktersetzung war Sache des Interpreten. Durch das schnelle Arbeitstempo und die Einmaligkeit der Aufführungen legten die Komponisten oft erst während der Probenarbeit fest, welches Instrument welche Aria spielen, welche Gruppe wann einsetzen sollte, um den vom Komponisten gewünschten Effekt zu erzielen. Im Entdecken dieser Tatsache bereicherten die Alte-Musik-Spezialisten die neuere Aufführungspraxis der Gegenwart um ein wesentliches Element, das im Zeitalter des romantischen „Helden“ verloren gegangen war: die Improvisation. Und das Rubato ist zurückgekehrt! Erinnerte manche Bach-Interpretation der Vergangenheit an das Abspulen einer Nähmaschine, überraschten die Forscher der musikalischen Vergangenheit in ihren Aufführungen vor allem in Bezug auf Puls, Metrik und Klang mit einer geradezu schroffen Freiheit. So hat die Alte Musik der Moderne die Mode zurückgebracht und die Frage, welcher Stil soll der Bestimmende sein: das italienische Concerto? Die französische Ornamentik? Die deutsche Vielstimmigkeit? Wenn wir auf die vergangenen sechzig Jahre zurückblicken, die seit der Gründung des ersten Originalklangensembles, der Cappella Coloniensis, 1954 vergangen sind, so sehen wir, daß die spezifische und detaillierte Beschäftigung mit der Musik früherer Jahrhunderte uns reiche Früchte brachte: ein Konzert- und Opernrepertoire, das um ein Vielfaches gewachsen ist. Eine Erweiterung des Klangspektrums. Neue Lebendigkeit und Fülle in den Aufführungen. Vor allem aber hat die Entdeckerfreude der Alte-Musik-Avantgardisten eine Sensibilisierung gefördert, die uns Heutige viel genauer nach den jeweiligen Umständen und Voraussetzungen fragen lässt, welche die Entstehung eines spezifischen Werkes begleitet haben; uns auf jede musikalische Epoche mit gleichermaßen starkem Interesse blicken lässt; und unsere Beweglichkeit fördert, uns den Manieren jeder Epoche mit Neugier und Leidenschaft anverwandeln zu können.

 

In der Musikauswahl zu unserem Ballett haben wir versucht, die verschiedenen Aspekte der Barockmusik darzustellen und einen Querschnitt des Unbekannt-Bekannten zu geben. Der rote Faden läuft entlang der instrumentalen Sinfonien aus Bach-Kantaten. Sie öffnen die Räume für Werke, die das gesamte Zeitalter und die geographische Entfaltung barocker Musik umfassen, wie „L’Orfeo“des 1630 geborenen Venezianers Antonio Sartorio oder Marain Marais’ 1706 am Hofe des Sonnenkönigs aufgeführte „Alcyone“, bis zu „Softly rise, O southern breeze“aus dem 1743 komponierten Oratorium „Solomon“von William Boyce. In Boyce finden wir auch einen der ersten Alte-Musik-Forscher, entriss er als Herausgeber doch die Musik seiner Vorgänger William Byrd und Henry Purcell dem Vergessen. Mit Purcells berühmter Chaconne aus „Fairy Queen“klingt der Abend dann aus.

 

 

 

 

 

 

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© Robin Engelen